"Beurteile nicht meinen Weg, wenn du nicht weisst,

wie meine Reise war."              (Anna Luise Beck)

 

 

                                       

Ahmed

Begegnung einer jungen Deutschen

mit einem syrischen Flüchtling 

 

Als ich die Küche meines Vaters betrete, sitzt ihm ein vernünftig aussehender Mann

gegenüber. Sie unterhalten sich lautstark auf Arabisch, seine Frau hat uns Kuchen

gebacken. Sein Name ist Ahmed. Er hat meinen Vater letztes Jahr in der Moschee

kennengerlernt. Seitdem betont Ahmed immer wieder die große Bedeutung dieser

Begegnung für ihn und seine Integration in Deutschland. Er spricht nur Arabisch, weshalb

mein Vater die Übersetzung während des gesamten Gespräches übernimmt. Ahmed

entspricht äußerlich dem typischen Bild eines Arabers: Braune Haut, schwarze Haare,

mit rasiertem Bart - man kann ihm seine ungefähre Herkunft optisch also ansehen. 

Seine Kleidung ist stilvoll und gepflegt. Ahmed wirkt auf den ersten Blick mitunter ein

wenig introvertiert. Gleichzeitig strahlt er aber vor Lebensfreude und Lebensmut,

was ich nicht erwartet hätte bei seiner Vergangenheit.

Es ist nicht lange her, da sah sein Leben noch komplett anders aus:

1962 erblickt Ahmed in Damaskus - die Hauptstadt von Syrien- das Licht der Welt.

Er wächst dort in einem Flüchtlingsviertel auf. Seine Wurzeln liegen ursprünglich in  

Palästina, von dort wird seine Familie 1943 aufgrund der politischen Situation      

vertrieben - demzufolge bezeichnet er sich selbst als „palästinensischen Syrier“.

Ahmed stammt aus armen Verhältnissen und sein Vater arbeitet hart, um ihn und    

seine acht Geschwister versorgen zu können. Schon im jungen Kindesalter lernt er

Eigenständigkeit und Verantwortung zu übernehmen. So verkauft er zum Beispiel im  

Alter von fünf Jahren Kuchen und Ähnliches, um seiner Familie finanziell unter die Arme 

zu greifen. „Aber mein Vater hat es geschafft uns alle in die Schule zu schicken und wir   

alle haben erfolgreich unsere Ausbildungen gemeistert“ erklärt er dankbar. Generell ist

auffällig, dass Ahmed ein sehr dankbarer und wertschätzender Mensch ist. Er gibt sich 

mit kleinen Gesten und Glücksgefühlen zufrieden, die sich stärker auf ihn auswirken,  

als die Dramatik und Brüche, welche sich durch seine Geschichte ziehen.

Ahmed vertraut auf sein Schicksal.

Während ich immer mehr über seine Lebensgeschichte erfahre und Stück für Stück der

Gegenwart näher komme, gestikuliert Ahmed wild umher und erzählt seine Geschichten

sowohl mit voller Begeisterung, als auch mit einer Nüchternheit und Gelassenheit, was

bezüglich seiner Erfahrungen die er dabei preisgibt, als ungewöhnlich erscheint.

Es scheint so,  als hätte er eine sehr starke Psyche.

Nachdem er seinen beruflichen Werdegang auf die Rekonstruktion von Bauwerken

spezialisiert hat, nimmt er im Alter von 17 Jahren das Angebot an, in den Vereinigten    

Emiraten zu arbeiten. Als er nach zwei Jahren nach Syrien zurückkehren will, 

wird er zur Begrüßung am Flughafen festgenommen und für das Militär verpflichtet.   

Unglücklicherweise bricht genau in dieser Zeit ein Krieg aus, daher werden aus den    

zwei Jahren Wehrpflichtdienst dreieinhalb Jahre. Auf die Frage, ob viele Menschen   

gestorben sind, die er kannte, muss er fast lachen und antwortet:

„Das ist Krieg, natürlich. Ich habe viele Verletzte und Tote gesehen.“.

Mich persönlich fasziniert, dass er trotz seiner schweren Vergangenheit glücklicher und

vollkommener, als manch anderer, scheint. Wahrscheinlich hat Ahmed eine  

„Schutzschicht“ aufgebaut, ohne die er sonst vermutlich zu Grunde gehen würde.   

Äußere Einflussfaktoren wie Armut spielen für seine seelische Verfassung eine weniger

große Rolle, als Außenstehende es annehmen würden. Diese seelische Schutzfunktion,   

die man in der Psychologie als „Resilienz“ bezeichnet, finde ich bemerkenswert.       

Sie baut sich nicht nur auf einem Ereignis auf, sondern auf einer Aneinanderreihung

von Ereignissen und Lebenszuständen, die wir Europäer nicht ansatzweise

nachempfinden können, da unsere Lebensbedingungen und Wertvorstellungen

auf einer ganz anderen Ebene basieren.

Nun zurück zu Ahmeds Geschichte: Nachdem er seinen Wehrpflichtdienst überstanden  

hat, holt er sein Abitur in Syrien nach und studiert Literatur. Von dem Studium nimmt er

allerdings eine Auszeit und geht nach Libyen, um zu arbeiten. Während seiner

Aufenthaltszeit in Libyen bricht indes erneut eine politische Krise aus, durch welche ihm   

und allen anderen Libyern das Verlassen des Landes verweigert wird. Er ist praktisch über

mehrere Jahre in dem Land eingesperrt. Grund dafür ist ein internationales Embargo, 

weshalb die Lebensverhältnisse in dem Land zunehmend schlechter wurden.

Mit 30 Jahren trifft er die Entscheidung, ein stabileres Leben führen zu wollen; dies    

gelingt mit nichts geringerem besser als eine Familie zu gründen: Ahmed heiratet in   

Libyen die Frau, die ihm in Zukunft sieben Kinder beschert. Nachdem sie ihre ersten drei

Kinder bekamen, will Samir seine mittlerweile seit 17 Jahren nicht gesehene,  

Familie in Syrien besuchen und seine Frau und Kinder mitnehmen, um sich dort ein    

neues Leben aufzubauen. Dies erweist sich aber um einiges komplizierter als gedacht. 

Denn in dieser Zeit bricht der arabische Frühling aus und in Syrien scheint die Situation   

fast noch gefährlicher zu sein, als an seinem jetzigen Standort. Was in den anderen

arabischen Ländern wie in Tunesien, Ägypten etc. als eine Revolution beginnt, entpuppt  

sich in Libyen fast schon als Bürgerkrieg: Jeder Mensch trägt mindestens eine Waffe mit

sich; die Situation ist verheerend. Der Familie ist es also nicht möglich nach Syrien zu

ziehen. Inzwischen ist aus der kleinen Familie eine große Familie geworden.

Die sieben Kinder  haben ein besseres Leben verdient.

„Der ausschlaggebende Punkt, weshalb ich mich entschloss, Libyen zu verlassen, war   

nicht die Armut, das Elend oder der Krieg - es ging mir um meine Familie und die

Gesundheit meiner Kinder“. Nachdem sein jüngster Sohn schwere Verbrennungen erlitt,

beschließt Ahmed mit seiner Familie nach Europa zu fliehen, da die Gesundheitsversorgung

in Libyen zu schlecht ist, um ihn adäquat behandeln zu können.

Die nun folgende Geschichte musste Ahmed schon unzähligen Reportern und Interes-

sierten berichten. Trotzdem merkt man ihm keinen Missmut an, eher wirkt er begeistert,

seine Geschichte erzählen zu dürfen. Es wird um kein Detail gespart, seine Mimik und

Gestik unterstreichen seine Worte eindrucksvoll und während des Gespräches hält er     

den Blickkontakt stets aufrecht, was dafür spricht, dass er es gerne erzählt.

„Ich habe meinen gesamten Besitz verkauft um die ‚Organisatoren‘ bezahlen zu  

können!“, beginnt er. Jeder Familie sei es gestattet gewesen, drei kleine Rucksäcke

mitzunehmen. „Als erstes wurden wir in ein Zelt am Strand gebracht“, welches bis zum

Rand mit bangenden Menschen gefüllt war. Es ist drei Uhr Nachts. Nach und nach      

werden sie grüppchenweise über den Strand gescheucht und in ein kleines Schlauchboot

gebracht; düstere Stimmung kommt auf. Um in das Schlauchboot zu gelangen    

muss man bis zur Brust ins Wasser steigen, die Kleinen auf den Schultern der Großen,

bis das Schlauchboot nicht mehr mit Menschen zu füllen ist. „Es war stockduster, ich

konnte NICHTS sehen und die Kapitäne sprachen kein Wort“, schildert er die Situation.

Irgendwann kann man Stimmen wahrnehmen, und mitten auf dem Meer erreichen sie  

dann das 14 Meter lange und drei Meter breite Fischerboot, mit Flüchtlingen gefüllt wie  

eine Sardinenbox. Ahmed, seine Frau und seine sieben Kinder sind die Letzten, die das 

Boot betreten dürfen. „Wir saßen ganz hinten, das war das Beste was uns in dieser

Situation passieren konnte, nicht in der Mitte eingequetscht zwischen all den Menschen“.

Von dieser Position aus hat er einen guten Überblick über das Boot.

„Ich hatte keine Ahnung wohin uns die Reise führt, ich hatte keine Ahnung von Europa  

und wie die Geschichte ausgehen würde, aber ich war mir sicher, wenn Gott es will,     

kann es nur besser werden!“

Ich frage ihn, wovor er sich am meisten gefürchtet habe: Es sei nicht die Angst vor dem

Sterben, die ihn gequält habe. Denn wäre es so gekommen, hätten das Schicksal und  

Allah es so gewollt. Wirklich geplagt habe ihn die Angst um seine Kinder. Die Angst davor,

seine Kinder und seine Frau in ein Unglück zu stürzen, die Angst davor, sie zu

verlieren. Um die Kinder zu beruhigen und sie vor schrecklichen Bildern zu schützen,  

geben Samir und seine Frau ihnen Hustensaft mit eingemischtem Beruhigungs- bzw.

Schlafmittel. Es hilft, die Kinder schlafen. Die Stimmung auf dem Boot ist sehr    

angespannt und ängstlich, die Menschen sind wie gelähmt, gequetscht und ihrem   

Schicksal ausgeliefert. „Von meiner Position aus konnte ich den Menschen ihre Angst 

aus dem Gesicht ablesen. Dieser Moment war so fassend und erschreckend zugleich…“.

Nach circa 15 Stunden erreicht das Fischerboot die Militärzone des Mittelmeers. Alle 

warten auf die Marineschiffe und es herrscht eine ungeduldige und immer panischer

werdende Grundstimmung in der Luft. Da das Meer mit steigender Sonne immer   

unruhiger wird, beginnt das Boot dementsprechend zu schwanken. Als nach circa drei

Stunden Rettung eintrifft, fällt allen ein großer Stein vom Herzen. Nach und nach werden 

die Menschen mit einem Motorboot aufgesammelt und man sieht deutliche Anspannung   

in den Gesichtern der Marine. „Als wir endlich rankamen und ich mich umdrehte und   

dieses kleine wackelige Fischerboot mit den vielen, vielen Menschen sah, wurde mir 

zum ersten Mal wirklich bewusst, in was für eine Gefahr ich mich und meine Familie

gebracht hatte“. Außerdem wurde ihm klar, weshalb die Marine mit panischen Gesichtern

und mit der Anweisung, sich ruhig und vorsichtig zu bewegen, eintrifft.

Ahmeds Angst und Trauer taucht auf einmal in seinem Blick auf. Plötzlich wirkt er nicht

mehr neutral. Seine Anspannung überträgt sich auf das Gesprächsverhalten

und es wird deutlich, wie dieses Erlebnis noch heute an ihm nagt.

Die nächsten drei Tage verbringt die Familie auf dem Marineschiff, da dieses seinen

dreitägigen Einsatz nicht abbrechen darf. Die Familie erfährt hier den ersten    

europäischen Kontakt ihres Lebens und dieser gibt Ahmed immer mehr Mut und stärkt   

die Erkenntnis, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat: „Wir wurden sehr nett,

respektvoll und hilfsbereit aufgenommen“. Seine zweite Tochter ist Diabetikerin und ihr

Zustand ist so schlimm, dass sie direkt behandelt werden und in Sizilien angekommen   

ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Hier erlebt Ahmed die nächste  

Gastfreundschaft der Europäer und ist begeistert von dem respektvollen Umgang.  

Sie werden nicht als Fremde angesehen, sondern von diversen hilfsbereiten Menschen

unterstützt. So sollte jeder in Europa empfangen werden!

Nach einer Woche Aufenthalt in einem Krankenhaus in Milano geht es mit dem Zug weiter

nach Berlin. Ahmed kann kein Wort Deutsch und ebenso wenig kennt er die lateinischen

Schriftzeichen. Ihm wurde eine Adresse mitgegeben, welche er nicht lesen kann.

Angekommen in Berlin wird er mit dem nächsten glücklichen Zufall überrascht: Der erste

Taxifahrer, der ihm über den Weg läuft, kommt aus dem Sudan und spricht Arabisch. Sie

verstehen sich auf Anhieb gut. Dieser fährt die Familie zu der Adresse des Auswärtigen

Amtes und Ahmed erlebt die nächste Überraschung: Die Bürokratie in Deutschland läuft    

für ihn reibungslos und unkompliziert. Nachdem der Antrag auf Asyl gestellt war, geht  

es für die Familie weiter in ein Übergangswohnheim.

„Wir wurden von Deutschland wirklich aufs Herzlichste empfangen!“.

Ahmed ist ein liebevoller und verantwortungsvoller Ehemann und Familienvater und weiß 

die wichtigen Dinge im Leben zu schätzen. Seine weltgewandte und offene Einstellung  

kam offensichtlich durch seine Biographie zustande.

In Ahmeds Schilderungen spürt man seine positive Lebenseinstellung. Er besteht darauf,

dass alles was er positiv in Erinnerung hat von mir auch so niedergeschrieben wird. Man

kann fast sagen sein Leben basiert auf dem Spruch „Glück im Unglück“.

„Berlin und Deutschland sind für mich und meine Familie komplett neu, alles ist fremd, 

die Menschen, die Infrastruktur, die Politik…alles. Bis auf eine Sache, die mir mein

Heimatgefühl zurückgibt: die Moscheen und die Araber.“ Ahmed ist sehr froh darüber, 

dass er seine Religion in Deutschland so frei ausüben kann und dabei nicht der Einzige ist:

„Dadurch habe ich wertvolle Freunde wie deinen Vater kennengelernt.“.

Was ihm noch sehr am Herzen liegt, ist, dass seine Geschichte nicht nur die Geschichte

einer einzelnen Familie darstellt, sondern die Geschichte eines ganzen Volks repräsentiert -

die Geschichte der Palästinenser. Diese haben kein Land mehr und müssen entwurzelt

über die gesamte Welt verteilt leben. Denn auch seine Geschichte beginnt damit, dass  

seine Eltern nach Syrien vertrieben wurden und daraufhin folgt eine Aneinanderkettung  

von Ereignissen und Schicksalsschlägen, welche ihn dahin brachten, wo er sich heute

befindet.

(N.N. Mai 2015, 18 Jahre)